Kritik ist eine Geschmacksfrage

Kritik setzt einen Standpunkt voraus, der nicht absolut sein kann, es sei denn die Kritisierenden entscheiden sich für Universalismus anstelle von Relativismus. So ist bereits die Möglichkeit von Objektivität fraglich. Die Begründbarkeit einer Kritik ist grundsätzlich anzuzweifeln, solange die Frage nach einer möglichen Letztbegründung offen ist und diskutiert wird.

Kritik bezieht sich auf Aussagen, die einen bestimmten räumlichen, zeitlichen, kulturellen, sozialen und sonstig eingeschränkten Gültigkeitsbereich haben, der sich auch auf die Kritik überträgt, wobei er im allgemeinen weiter eingeschränkt wird. Kritik bezieht sich auf Sachverhalte, die nicht trivialerweise falsch sind. Was trivial ist und was nicht, ist eine nicht-triviale und meist unentscheidbare Frage.

Solange wesentliche Grundfragen (Was ist Leben? Gibt es freien Willen? Existiert Gott? Was ist wahr, was ist falsch?) diskutiert werden, kann auch Kritik diskutiert werden.

Wenn sich die Kritik auf komplexe, dynamische Systeme erstreckt (beispielsweise Lebewesen und soziale Systeme), so sind deren systemische Eigenschaften, zumindest aber deren Dynamik und Komplexität zu berücksichtigen. Sie erlauben, Kritik in Frage zu stellen, zumal Kritik meist keine ausreichende Komplexitätsreduktion sein kann, insbesondere wenn sie versucht, kritisierbaren Reduktionismus zu vermeiden.

Möchten wir die Bedeutung eines Kategorischen Imperativs oder der Goldenen Regel anerkennen, so ist Kritik hinsichtlich ihres Geltungsanspruches zu überprüfen, vor allem wenn sie über persönliche, individuelle Stellungnahmen hinausgeht.

Kritik setzt im allgemeinen Wissen voraus, jedoch kann kaum von einem Konsens darüber ausgegangen werden, zumal (kritisiertes) Wissen Wissensträgern (siehe Wissenssoziologie) zugeschrieben wird. Kritik und Wissen verstehen sich auch in diesem Sinne als perspektivische Begriffe.

Wenn einer Kritik Modellannahmen zugrunde liegen, kommt auch die Kritik der Modelltheorie, Modellbildung und Simulation zum Tragen.

Die kritisierten Personen und das Kritisierte stehen in einem Kontext, der oft aufgrund von Unzugänglichkeit, Größe, Zeit und Komplexität nicht zur Gänze erfassbar ist. Zum Beispiel können nicht alle Referenzen (der Referenzen) eines wissenschaftlichen Artikels gelesen werden. Manche sind vielleicht gar falsch oder ungenannt. Der persönliche, historische, kulturelle und sonstige Hintergrund einer Autorin oder eines Autors ist schwer rekonstruierbar.

Insofern Kritik eine Form von Kommunikation darstellt oder auf Kommunikation basiert, sind die Probleme der Kommunikation in Betracht zu ziehen. Die Mehrdeutigkeit der verwendeten Begriffe müsste unter Berücksichtigung der Probleme der Semantik abgeklärt werden.

Kritik ist in vielen Fällen eine Kritik einer Kritik, insofern das Kritisierte eine (scheinbar) kritisierbare Aussage über etwas darstellt. Kritik ist in diesem Sinne ein Begriff zweiter Ordnung. Die Kritik an der Kritik ist auf sich selbst anwendbar. Sie kritisiert sich selbst.

Die Selbstreferenz zeigt sich auch, wenn das Kritisierte eine Antwort (auf eine Frage, auf ein Hinterfragen) darstellt und Kritik als ein Hinterfragen oder darauf basierend gesehen wird. Dann wird ein Hinterfragen hinterfragt. So kann Kritik mittels eines Infiniten Regresses ad absurdum geführt werden.

In jedem Fall meint Kritik eine Unterscheidung. Als solche unterscheidet sie Unterscheidungen. Die Operationen (im Sinne der Systemtheorie) einer Kritik sind auf sie selbst anwendbar (mit den aus der Systemtheorie und Kybernetik bekannten Folgen). Das zeigt sich auch in den auftretenden Paradoxien, wenn sich Kritik als Rückmeldung und Feedback versteht.

Kritik kann nur Geschmack meinen.

3 Responses to “Kritik ist eine Geschmacksfrage”

  1. [Iro] says:

    Ich würde einfach mal behaupten, dass ich noch keine bessere Definition des Wortes Kritik gelesen habe. Ich, der ich ja auch gerne, wie jeder Mensch, Kritik von mir gebe, weiß jetzt zumindest eines ganz genau: ob meine Kritik, und damit mein Geschmack, im Einklang mit der Gesellschaft steht ist fraglich. Fest steht aber, dass ich meinen Mund trotzdem nicht halten werde…

  2. Kritik - und eine wahrhaftig wahre Definition - Schandmaul says:

    […] geht dabei um die Definition des Wortes Kritik. Ich stieß dabei auf einen Post auf dem rattus rattus’ blog, der mir genau aufzeigte, woraus sich Kritik, aus Sicht des Schreibers, zusammensetzt. Sehr […]

  3. rattus says:

    Servus [Iro]! Das Problem der Kritik ist ja einfach. Es ist (ihre) Kritik. Ihre Definition hingegen sollten wir erstmal definieren. Und kritisch betrachtet, ist Definition das Salz, das die Suppe schmackhaft macht. So oder so ähnlich :-)